Der Krimkrieg. Der erste industrielle Krieg der europäischen Großmächte. Vorläufer des Ersten Weltkriegs

Halbinsel Krim

Am 22. April 1854, die orthodoxe Christenheit Russlands feiert gerade das Osterfest, erscheint vor Odessa ein britisch-französischer Flottenverband. General Osten-Sacken, amtierender Stadtkommandant, wird aufgefordert, sämtliche im Hafen liegende Schiffe an die Alliierten auszuliefern. Als eine Antwort ausbleibt, geht ein elfstündiger Hagel aus Bomben und Raketen auf die ungeschützte Stadt nieder. Zahlreiche Menschen sterben, Schiffe werden versenkt, die Hafenanlagen schwer beschädigt. Es trifft die Statue des Herzogs von Richelieu und das klassizistische Palais Woronzows, beides erfolgreiche frühere Gouverneure, deren Namen eng mit dem Aufschwung Odessas und Neurußlands verbunden waren.

Ein weiterer Angriff erfolgt am 12. Mai. Diesmal läuft der britische Dampfer "Tiger" im dichten Nebel auf Grund. Tollkühn entert eine Kosakenkompanie unter dem Kommando des Fähnrichs Schtschegolow das gestrandete Schiff und nimmt die Besatzung gefangen. Unter den Augen der Odessaer Damenwelt, die sich am Ufer versammelt hat, bringen die Kosaken Matrosen und Offiziere der "Tiger" an Land und führen sie anschließend im Triumph durch die Stadt. Noch heute steht eine der damals erbeuteten Kanonen vor dem Gebäude der städtischen Duma am Primorskij-Prospekt.

Europa befand sich wieder einmal im Krieg. Aber wie war es dazu gekommen?

Nach den Napoleonischen Kriegen zu Anfang des 19. Jahrhunderts, an deren Ausgang Russland durch die Vernichtung der Grande Armee im Winter 1812 wesentlichen Anteil hatte, war das Reich der Zaren zur bestimmenden europäischen Kontinentalmacht geworden. Schon lange hatten die Moskauer Machthaber ihren Blick nach Süden gewandt.

Dort siechte das einst mächtige Osmanische Reich seit den beiden Niederlagen vor Wien und der Befreiung Griechenlands scheinbar vor sich hin. Der "Kranke Mann am Bosporus", innerlich zerrissen zwischen verzweifelten Modernisierungsversuchen nach westlichem Muster und dem zähen Bewahren islamischer Tradition, schien für einen finalen Todesstoß bereit. Es lockten die Dardanellen mit ihrem Zugang zum Mittelmeer und die uralte Stadt Konstantins, einst das Zweite Rom und Zentrum der Orthodoxie.

Dabei herrschte in Russland in vielen Bereichen eine ähnliche mittelalterliche Rückständigkeit wie im Machtbereich des Sultans. Leibeigenschaft und Analphabetismus prägten den ländlichen Raum. Dazu war der Adel unwillig sich von alten Privilegien zu trennen und unfähig, auf seinen großen und oft stark überschuldeten Güter nach modernen ökonomischen Prinzipien zu wirtschaften. Es fehlte ein wirklich selbstständiges Bürgertum als Motor der sich immer mehr beschleunigenden industriellen Revolution. Und es fehlte an einer breiten öffentlichen Meinung, an halbwegs freier Presse, an all dem, was sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England, aber auch in Frankreich entwickelt hatte.

Diese beiden, einst verfeindeten Mächte, vereinen nicht nur bestimmte parallele Entwicklungen im Innern, sondern auch handfeste außenpolitische Interessen. Sie dulden kein zu großes russisches Übergewicht in Europa. Schon gar nicht dessen Ausgreifen ins östliche Mittelmeer nach einer möglichen Zerschlagung des Osmanischen Reiches. Dies könnte den Status quo auf dem Balkan und die britischen Handelswege in den mittleren und Fernen Osten bedrohen.

Am Anfang stand ein Streit um die Schutzherrschaft über Christen und christliche Pilger im osmanischen Jerusalem. Zar Nikolaus I. forderte diese für Russland und die Orthodoxie. Dagegen erhob unter anderem Napoleon III. im Namen des mehrheitlich katholischen Frankreichs Einspruch. Sultan Abdülhamid II. fand sich zwischen den Fronten der Großmächte wieder.

Zu Beginn des Jahres 1853 erschien als Gesandter des Zaren Fürst Menschikow bei der Hohen Pforte in Konstantinopel. Er legte ein Sammelsurium von Forderungen vor, provozierte, kam mit immer neuen Begehren. Abdülhamid, so unter Entscheidungszwang gesetzt, bekam Rückendeckung durch das Britische Empire und lehnte ab. Moskau hatte einen Vorwand für seinen Krieg und ließ am 3. Juli 1853 russische Truppen in die Moldau und Walachei einmarschieren.

Die türkische Kriegserklärung folgte im Oktober, der erste Sieg der Osmanen unter Omar Pascha bei Olteniza am 4. November. Ende des Monats versenkten die Russen bei Sinope an der türkischen Schwarzmeerküste die Flotte des Sultans.

Im März 1854 schlossen Frankreich und Großbritannien ein Hilfsabkommen mit der Türkei. Die Kriegserklärung beider Mächte an das Zarenreich folgte am 27. und 28. desselben Monats. Bereits im April landeten erste alliierte Truppen bei Gallipoli an der Meerenge zwischen Schwarzem und Mittelmeer.

So sind die Angriffe auf Odessa im April 1854 nur Vorboten weiteren Unheils. Auf dem Balkan erleiden die russischen Truppen eine Niederlage und müssen sich zurückziehen. Im Sommer kommt es auch in der Ostsee zu Kampfhandlungen. Selbst im fernen Osten erfolgt ein britisch -französisches Landungsunternehmen auf der Halbinsel Kamtschatka. Der Versuch dort die Stadt Petropawlowsk einzunehmen scheitert unter hohen Verlusten.

Die Alliierten scheuen davor zurück, in die Weiten Russlands vorzudringen. Das Schicksal Napoleons I. sitzt noch frisch im Gedächtnis. Da bietet sich die Krim und der Kriegshafen Sewastopol als lohnendes Ziel. Seine Ausschaltung wäre das Ende für eine russische Flottenmacht im Schwarzen Meer und die Bedrohung der Dardanellen und des Mittelmeers.

Jetzt tritt der Krieg in seine namensgebende Phase. Am 12. September 1854 erreicht die Flotte der Briten und Franzosen die Bucht von Jewpatorija an der Westküste der Krim. Vom 14. September bis zum 19. September 1854 dauert die Ausschiffung der Truppen. Dann marschiert das Heer in Richtung Süden mit dem Ziel Sewastopol. Am Fluss Alma, ungefähr auf halber Strecke, tritt ihnen Fürst Menschikow, jetzt Oberbefehlshaber der russischen Truppen, entgegen. Trotz gravierender Pannen gelingt es den Alliierten die Schlacht für sich zu entscheiden. Der Weg nach Sewastopol ist frei.

Am 9. Oktober 1854 erscheinen die Soldaten Marschall Arnauds und Lord Raglans im Weichbild der Stadt und beginnen mit ihrer Einschließung und dem andauernden Beschuss von Stadt und Festungsanlagen.

Zweimal versuchen nun die Russen vergeblich in den Schlachten von Balaklawa (25.10.1854) und Inkerman (5.11.1854) die alliierte Einkreisung aufzubrechen. Bei Balaklawa kommt es auch zu dem in Großbritannien heute noch gewürdigten "Todesritt der Leichten Brigade" (Charge of the Light Brigade). Chaos und Verantwortungslosigkeit bei der Befehlsübermittlung führten zum Angriff einer Kavallerieeinheit durch ein Tal, bei dem die Reiter von drei Seiten unter dem Feuer russischer Artillerie lagen. Nach dem Rückzug war fast die Hälfte der ursprünglich 673 Soldaten tot, verwundet oder in Gefangenschaft geraten. Die Kadaver von fast 400 getöteten Pferden säumten den Weg der genauso todesmutigen wie sinnlosen Attacke.

Der Krimkrieg ist einer der letzten internationalen Auseinandersetzungen, bei dem auf beiden Seiten Vorderladergewehre zum Einsatz kommen. Allerdings haben Briten und Franzosen einen entscheidenden Vorteil. Ihre Waffen besitzen gezogene Läufe. Diese neuen Miniégewehre haben eine tödliche Reichweite von 800m. Die alten Musketen der Russen dagegen bringen es nur auf 200m. Dazu sind die Soldaten des Zaren auch noch mangelhaft im Schießen ausgebildet – man setzt auf ihre Fähigkeiten im Nahkampf mit Kolben und Bajonett. Mehr als einen halben Kilometer müssen die Muschiks unter dem kontinuierlichen Feuer der Alliierten vorrücken, bis sie selbst zum Schuss kommen. Entsprechend hoch sind die Verluste.

Briten und Franzosen, Ende Mai 1855 kommen noch 14 000 Italiener dazu, sehen sich vor Sewastopol mit einem gut ausgebauten Befestigungssystem konfrontiert. Hochaufragende Verteidigungswerke wie das Fort Malakow sowie der Große und der Kleine Redan dazu noch tief in die Erde eingegrabene Bunker machen Attacken zu verlustreichen Wahnsinnstaten und nehmen dem kontinuierlichen Beschuss durch die alliierten Batterien einen Großteil seiner Wirkung. So bleibt den Angreifern nichts anderes übrig, als sich unter starken, hohen Verlusten fordernden, russischen Beschuss selbst einzugraben. Mehr als ein halbes Jahrhundert vor dem Inferno Verduns im 1. Weltkrieg findet hier ein zermürbender Stellungskrieg statt.

Im August 1855, versuchen die Russen noch einmal den Belagerungsring aufzubrechen. Doch auch in dieser letzten, der Schlacht von Tschernaja, bleiben sie erfolglos. Einen Monat später gehen die Alliierten aufs Ganze. Drei Tage lang spucken 775 britische und französische Kanonen und Mörser ihre tödlichen Ladungen auf Festungswerke, Stadt und Verteidiger. Am 8. August fällt Fort Malakow, wichtigster Pfeiler in der Sewastopoler Verteidigungslinie. General Gortschakow, Nachfolger des im Vormonat durch einen Scharfschützen getöteten Admirals Nachimow, lässt die Stadt räumen. Dabei werden die Hafenanlagen gesprengt und zahlreiche Brände gelegt. Die nicht transportfähigen Schwerverwundeten bleiben zurück. Der verantwortliche Arzt, Dr. Gjubbenet, geht davon aus, dass die nachfolgenden Alliierten sich ihrer annehmen. Franzosen und Briten aber rücken erst am 12. August in das immer noch an vielen Stellen brennende Sewastopol. In Lazaretten und Krankenhäusern werden sie mit Bildern unbeschreiblichen Grauens konfrontiert.

Tatsächlich, und das ist vielleicht das wesentliche Gesicht dieses Krieges, fand in ihm das große Sterben am Rand der Schlachtfelder statt. Von bis zu einer halben Million Toter insgesamt, geht gut die Hälfte auf das Konto von Kälte, Hunger und dem teilweise völligem Fehlen medizinischer Versorgung. Abertausende Opfer forderten besonders Cholera und Ruhr. Nicht nur die einfachen Soldaten, bei den Russen meist leibeigene Bauern, den Engländern Angehörige der Unterschichten, wurden Opfer dieser Krankheiten. Beide alliierte Oberbefehlshaber der Kriminvasion starben an den Folgen der katastrophalen Zustände, die sie mit zu verantworten hatten: Marschall Arnaud an der Cholera und Lord Raglan an der Ruhr.

Auf britischer Seite ist es die später zur Legende verklärte Florence Nightingale, die einen ersten Anstoß zur besseren medizinischen Versorgung der Verwundeten gibt. Bei den Russen sind es der Chirurg Nikolai Iwanowitsch Pirogow, der das bis heute praktizierte Triagensystem und neue Behandlungsmöglichkeiten wie den Gipsverband und Amputationstechniken einführte, und P. I. Grafowa, die erste russische Krankenschwester überhaupt.

Nach dem Fall Sewastopols setzten sich langsam auf beiden Seiten jene Kräfte durch, die für einen Friedensschluss eintraten. In Frankreich und Großbritannien übte die öffentliche Meinung, entsetzt über die großen Verlustzahlen, starken Druck auf die Regierungen aus. Zar Nikolaus I. war im März 1855 gestorben. Sein Sohn, Alexander II., besuchte im November die Krim um sich ein Bild von der Lage zu verschaffen.

Verhandlungen begannen und schließlich, am 30. März 1856 wurde in Paris ein Friedensvertrag unterzeichnet. Russland verlor, oberflächlich gesehen, dabei nicht allzu viel. Ein Teil Bessarabiens musste abgetreten werden, der Bestand des Osmanischen Reiches wurde anerkannt und das Schwarze Meer zum neutralen Gebiet erklärt. Dies allerdings wurde als demütigend empfunden. Gleichzeitig war es mit der Rolle als europäische Supermacht wie nach den Napoleonischen Kriegen erst einmal vorbei.

Viele innere Schwächen des Riesenreichs lagen nun offen. Tatsächlich begann Zar Alexander mit Reformen. Das Militärwesen wurde reorganisiert, 1861 die Leibeigenschaft aufgehoben. Es kam zu einer, wenn auch vorsichtigen, Liberalisierung des öffentlichen Lebens. Am 13. März 1881 detonierte in St. Petersburg eine Bombe zu Füßen des Zaren. Alexander II. erlag wenig später seinen schweren Verletzungen. Das Attentat war von einer Gruppe namens Narodnaja Wolja (Volkswillen) verübt worden. Eins ihrer Mitglieder hieß Alexander Uljanow. Dessen jüngerer Bruder Wladimir sollte sich später den Decknamen Lenin geben.

Am Ende des Istoritscheski Bulwars in Sewastopol steht auf einem Hügel ein klassizistischer Rundbau. Seine Mauern umschließen ein Panoramabild beachtlichen Ausmaßes. Auf einer 115 Meter langen und 14 Meter hohen Leinwand sind hier die Ereignisse am Morgen des 6. Juni 1855 dargestellt, als es den russischen Truppen gelang, den Ansturm der Alliierten auf die Sewastopoler Befestigungen noch einmal aufzuhalten. Ursprünglich schuf der Künstler Franz Alexejewitsch Rouband dieses Werk in den Jahren von 1901 – 1904. Die Ironie der Geschichte ist, dass es bei einer weiteren Belagerung der Stadt durch fremde Invasoren, Hitlers Wehrmacht 1942, schwerste Schäden erlitt. Obwohl Teile davon aus dem belagerten Sewastopol über das Schwarze Meer evakuiert werden konnten, musste das Panorama nach diesem letzten Krieg zu Beginn der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts fast vollständig neu geschaffen werden.

Die Außenfassade des Sewastopol-Panoramas schmücken Marmorbüsten bedeutender Offiziere des Krimkriegs. Darunter befindet sich das Porträt des jungen Lew Tolstoj. Auch er gehörte zu den Verteidigern der Stadt. Im "Sewastopol-Zyklus" zeichnete der Schriftsteller ein ungeschöntes Bild der Belagerung. Viele seiner Eindrücke beeinflussten den Dichter später bei der Niederschrift des monumentale Epos "Krieg und Frieden".

Obwohl mit einer Niederlage endend, wurde der Krimkrieg in Russland keineswegs aus dem kollektiven Geschichtsbewusstsein verdrängt. Im Gegenteil – das blutige, fast ein Jahr andauerndes zähes Ringen um Sewastopol verklärten sich zum mythischen Bild der Opferbereitschaft und Widerstandskraft des russischen Volkes. Gleichzeitig sah man sich von Europa, von den anderen christlichen Nationen verraten, fühlte einen tiefen Gegensatz zwischen Ost und West schon in dieser Zeit. Ein Gefühl, dass bis in unsere unmittelbare Gegenwart reicht und sich auch in der heutigen Ukraine – im Spannungsfeld zwischen Europäischer Union und Russischer Föderation - wieder findet.

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