Die Kiewer Rus. Wiege und Keimzelle des heutigen Russland und der Ukraine

Geschichte der Ukraine

Für die Entstehung der Kiewer Rus, des ersten ostslawischen Reiches, waren zwei voneinander unabhängige Prozesse verantwortlich.

Auf der einen Seite dehnten slawisch sprechende Stämme in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends christlicher Zeitrechnung ihren Siedlungsraum nach Mitteleuropa, auf die Balkanhalbinsel und den Nordosten des europäischen Russlands aus. Im Verlauf der Expansion kam es zur Gründung des Großmährischen Reiches im Westen und des 1. Bulgarenreiches südlich der Donau.

Dann gerieten die germanischen Völker Dänemarks, Südschwedens und Norwegens in Bewegung. Als Normannen, Wikinger und Waräger tauchten sie plündernd an den Küsten Europas und Nordafrikas auf. Mit ihren wendigen Ruderschiffen drangen sie über die großen Flüsse wie Rhein und Seine tief ins Landesinnere vor, um dort Städte und Landstriche auszurauben.

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Über die Flüsse Osteuropas gelangten die Nordmänner vom Baltikum aus bis ans Schwarze Meer. Hier lockte das reiche Konstantinopel, die Hauptstadt des Oströmischen Reiches.

Aber die Wikinger bestritten ihren Lebensunterhalt nicht nur mit Mord und Totschlag. Schnell lernten sie, dass die Erhebung von Tributen und ein halbwegs friedlicher Handel bedeutend lukrativer sein konnte. Schließlich funktionieren beide Erwerbsarten nur, wenn es genug Überlebende gibt.

So bildete sich entlang der Ströme Osteuropas ein Netz von Handelsstationen eindeutig skandinavischen Charakters. Hier wurden Güter zwischengelagert, Tribute eingesammelt und Handel mit der ansässigen slawischen Bevölkerung getrieben – Honig und Pelze z.B. waren in Byzanz und weiter im Arabischen Kalifat begehrte Artikel.

Warägischer Adel ließ sich an diesen Goldadern dauerhaft nieder, es kam zur allmählichen Symbiose zwischen Slawen und Skandinaviern. Nowgorod im Norden und Kiew am Dnepr wurden zu Entstehungszentren frühstaatlicher Gebilde. Mögen dabei auch die Waräger anfänglich treibende Kraft und Führungsschicht gewesen sein, so wäre dieser Prozess ohne den Willen der slawischen Mehrheit kaum so erfolgreich und auf Dauer durchzusetzen gewesen.

Über einen langen Zeitraum wurde der skandinavische Anteil an der Entstehung der Kiewer Rus von der russischen und späteren sowjetischen Geschichtsschreibung verschwiegen und geleugnet. Gegenteilige Meinungen, öffentlich geäußert, konnten zum Ende der Karriere oder Schlimmeren führen. Heute wird mit diesem Kapitel der Geschichte weit pragmatischer umgegangen.

Eine der wenigen, wenn auch unsicheren Quellen für die Anfangszeit des ostslawischen Reiches ist die "Erzählung der vergangenen Jahre" des Kiewer Mönchs Nestor – daher auch kurz "Nestorchronik" genannt. Danach vereinigte der Rjurikide Oleg im Jahre 882 die Herrschaftsgebiete Nowgorods und Kiews und machte Letztere zur "Mutter aller Städte der Rus". 955 dann ließ sich Fürstin Olga (Helga) in Konstantinopel taufen, bat aber gleichzeitig vier Jahre später Otto den Großen um Priester zur weiteren Verbreitung des Christentums unter ihren Untertanen.

Trägt Olga noch einen germanischen Namen, so zeigt sich die fortschreitende Assimilierung der einstigen Waräger bei ihrem Sohn Swjatoslaw (962-972) – eindeutig ein slawischer Name.

Exkurs: Wladimir I. Swjatoslawowitsch

Fürst Wladimir I. (ukr. Volodymyr) nimmt in Bezug auf seine Abstammung und seinen Machthunger eine besondere Stellung in der Geschichte des Fürstengeschlechts der Rjurikiden ein.

Geboren um 960 n. Chr. als unehelicher Sohn des Fürsten Swjatoslaw und einer Dienerin dessen Gemahlin konnte dieser nach Swjatoslaws Tod dennoch ein bedeutendes Amt in der Rus übernehmen. Nach dem Ende des Vaters wurde die Rus dreigeteilt; es entstanden die Teilfürstentümer Kiew, Nowgorod und Polozk. Wladimir wurde zum Regenten des Teilfürstentums Nowgorod erhoben, welches schon immer mit Kiew um die Vorherrschaft in der Rus rang. In Kiew betraten Jaropolk Swjatoslawowitsch und dessen Bruder Oleg in Nachfolge ihres leiblichen Vaters den Fürstenthron.

Die Differenzen zwischen Kiew und Nowgorod wurden nun stärker, und auch Polozk wurde von diesen Rangeleien in Mitleidenschaft gezogen. Um nicht zwischen beiden beiden Mächten zerrieben zu werden und eine stabilisierende Verbindung mit einem der konkurrierenden Nachbarn einzugehen, entschied sich der Polozker Fürst Rogwolod, seine Tochter Rogneda mit einem der beiden Fürsten zu vermählen. Und ließ ihr die Wahl. In der Chronik "Ereignisse der vergangenen Jahre", auch als Nestorchronik bekannt, wählt sie mit den Worten: "Einer Sklavin Sohn will ich nicht entschuhen, aber Jaropolk will ich".

Als Wladimir von dieser Antwort erfährt, sammelt er ein Heer, erobert Polozk, läßt Fürst Rogwolod und dessen beide Söhne töten und heiratet Rogneda gewaltsam. Dann marschiert er weiter auf Kiew, welches er kampflos einnimmt, zieht Jaropolk an den Verhandlungstisch, läßt ihn ermorden und ist damit alleiniger Herrscher der nunmehr wieder vereinigten Kiewer Rus.

In seiner Herrschaft wird die Rus vergößert und durch zahlreiche Burgstädte gesichert. Er tritt zum Christentum über, was ihm später den Beinamen "der heilige" einbringt und verbreitet dieses im ganzen Reich. Später wird er die Rus unter seinen 12 Söhnen aufteilen, was maßgeblich zum Niedergang der Kiewer Rus beitragen wird. Er stirbt am 15. Juli 1015.

Wladimir machte, nachdem er sich im Machtkampf gegen seine Brüder Oleg und Jaropolk I. durchgesetzt hatte, das byzantinische Christentum zur Staatsreligion. Damit war zum Einen für die Rus der Weg zum respektablen Staatswesen geebnet, zum Anderen aber auch die Weichen gestellt für die besondere kulturelle Entwicklung im Osten Europas.

Ihre höchste Blüte erreichte die Kiewer Rus unter Jaroslaw dem Weisen (1019-1054). In Kiew begann der Bau der Sophienkathedrale, Ilarion wurde erster russischer Metropolit und das Recht wurde kodifiziert. Folgenschweres Problem blieben jedoch die regelmäßigen Kämpfe um die Thronfolge. Auch der Versuch Jaroslaws, die Erbregelung zu ändern, indem die Herrschaft nicht mehr vom Vater auf den ältesten Sohn, sondern den nächstältesten Bruder des Vaters überging, brachte keine Lösung. Nun bekriegten sich Onkel und Neffen.

Die Rus begann, unaufhaltsam zu zerfallen. Susdal im Nordosten wurde neues Machtzentrum neben Nowgorod, während sich im Südwesten der Schwerpunkt nach Galizien-Wolhynien verlagerte. Aggressive Reiternomaden aus den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres behinderten den Nord-Süd-Handel, eine wesentliche ökonomische Existenzgrundlage des Reiches.

Als die vordringenden Mongolen 1240 Kiew zerstörten, setzten sie nur den effektvollen Schlusspunkt unter eine Entwicklung, deren Ende sich schon lange am Horizont abgezeichnet hatte.

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